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Wer sich an Hartz IV ein Beispiel nimmt, macht die Tür auf in die Armutsrepublik

Diskussionsveranstaltung "Arm trotz Arbeit und keine Chance auf einen guten Job"

Arbeitsmarkt / Deutschland / Armut / Gewerkschaften / Soziales 10.11.2016, 14:36 | OTS0204 | ÖGB Österreichischer Gewerkschaftsbund

 

Wer sich an Hartz IV ein Beispiel nimmt, macht die Tür auf in die Armutsrepublik

Diskussionsveranstaltung "Arm trotz Arbeit und keine Chance auf einen guten Job"


Wien (OTS/ÖGB) - „Arm trotz Arbeit und keine Chance auf einen guten Job“ – unter diesem Motto diskutierten ExpertInnen aus Österreich und Deutschland die Hartz-Reformen und ihre Folgen – und mögliche Auswirkungen der immer wieder geforderten Einführung von Hartz IV auch in Österreich. „Die Arbeitslosigkeit steigt an, immer mehr Menschen laufen Gefahr, dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzt zu werden. Es ist voreilig und riskant, aus den in Deutschland niedrigeren Arbeitslosenzahlen darauf zu schließen, dass man Hartz IV nur nach Österreich importieren müsste, und schon wären alle Probleme gelöst“, sagte Alice Kundtner, stv. AK-Direktorin, bei der von der AK Wien, der Österreichischen Gewerkschaftsjugend (ÖGJ) sowie der DGB-Jugend veranstalteten Diskussion. Die Hartz-Reformen waren eine der radikalsten Reformen der Arbeitsmarktpolitik in der EU. Sie haben zu einer Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit geführt und dazu, dass Arbeitslose nach ihrem Widereinstieg in den Arbeitsmarkt deutlich schlechtere Löhne erhalten. ++++

Unterlagen zu den Auswirkungen der Hartz-Reformen sowie zu den heutigen Redebeiträgen finden Sie ab morgen unter https://wien.arbeiterkammer.at/hartzIV

Unsicherer und prekärer Berufseinstieg ist zum Alltag geworden

Reformen wären per Definition dafür da, um die Situation zu verbessern, sagte Florian Haggenmiller, Vorsitzender der DGB-Jugend: „Die Hartz-Reformen hatten aber massive Auswirkungen auf die Lebensumstände der Arbeitenden und der Arbeitssuchenden – aber auch darauf, wie arbeitslose Menschen in der Gesellschaft gesehen werden.“ Der Arbeitsmarkt wurde dereguliert, die Sanktionen für Arbeitslose wurden verschärft. „Die Arbeitslosigkeit ist tief, aber gerade junge Menschen finden einen hochgradig unsicheren und prekären Arbeitsmarkt vor. Ein unsicherer und schlecht bezahlter Berufseinstieg ist in der Bundesrepublik zum Alltag geworden“, so Haggenmiller. Die Folgen seien Armut und wachsende Verteilungsungerechtigkeit. „Es ist also Zeit, etwas zu verändern.“

Aus armen Arbeitslosen werden arme Erwerbstätige

Die Hartz-Reformen seien ein sozialpolitischer Paradigmenwechsel gewesen, sagte Karin Schulze Buschoff, Arbeitsmarktexpertin am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung: „Nicht nur die Instrumente, auch die Zielsetzungen wurden geändert: weg von der aktiven Arbeitsmarktpolitik und deren Qualifizierungsmaßnahmen, hin zu autoritär-aktivierender Arbeitsmarktpolitik“, mit schneller Vermittlung in schlechte Jobs. Man setze auf nicht existenzsichernde Beschäftigung: „Aus armen Arbeitslosen werden arme Erwerbstätige.“ Irgendeine Arbeit sei besser als keine Arbeit. Entsprechend wurden Regelungen für Minijobs, befristete Jobs und andere atypische Beschäftigungsverhältnisse geschaffen. „Die Verantwortung wurde auf die und den Einzelnen geschoben.“ Die Folge: Mittlerweile erhält jeder Fünfte in Deutschland nur einen Niedriglohn. „Und aus dem Niedriglohnsektor kommt man auch nicht wieder heraus.“ Die Chance auf Aufwärtsmobilität sei in Deutschland sehr gering.

In Österreich kleinerer Niedriglohnsektor – dank hoher KV-Abdeckung

Niedriglohn in Österreich war das Thema von Jörg Flecker (Institut für Soziologie, Universität Wien): „Der Anteil liegt in Österreich bei etwa 15 Prozent, also deutlich unter Deutschland. Der Grund für die bessere Situation in Österreich ist die hohe Kollektivvertragsabdeckung.“ Österreich steche aber im internationalen Vergleich hervor, was den Unterschied zwischen Männern und Frauen betrifft.“ In Österreich ist Niedriglohn eine Frauenangelegenheit.“ Vor allem bei den Unter-35-Jährigen kommen aber wegen der atypischen Beschäftigung immer mehr Männer in den Niedriglohnsektor. Besonders verbreitet seien niedrige Stundenlöhne in Hotellerie und Gastgewerbe, der Taxibranche sowie in der Reinigungsbranche.

Aus Einkommensarmut wird Altersarmut

Auch auf die Alterssicherung hätten die Hartz-Reformen verheerende Auswirkungen, berichtete DGB-Sozialpolitik-Experte Markus Hofmann: „Hartz IV ist der Weg in die manifestierte Perspektivlosigkeit. Aus der Einkommensarmut wird später Altersarmut.“ Auch die oft behauptete Brückenfunktion der Hartz-Reformen sei „schlicht nicht gegeben“, wer einmal im Hartz-IV-Bezug landet, findet nicht mehr heraus. „Wie hängen einen erheblichen Teil der Bevölkerung dauerhaft vom Wohlstand ab, aber auch von jeder Teilhabe, vom kulturellen und politischen Leben“, kritisierte Hofmann: „Wer sich hier ein Beispiel an Deutschland mitmacht die Tür auf zu einer Armutsrepublik.“

Hartz-Reformen schieben Verantwortung für Arbeitslosigkeit auf Individuum

Ilse Leidl-Krapfenbauer, Arbeitsmarktexpertin der AK Wien, hat sich angeschaut, was die Einführung von Hartz-ähnlichen Reformen für Österreich bedeuten würde: „Hartz IV wäre ein Rückschritt würde die Probleme auf dem Arbeitsmarkt nicht beheben.“ Es würde die Stigmatisierung der Betroffenen drohen, weil die Verantwortung für Arbeitslosigkeit noch mehr als bisher dem Individuum zugeschrieben würde. „Hier besteht die Gefahr der Ghettoisierung.“ Die Ausgaben der Länder für die Mindestsicherung würden steigen, während die Ausgaben der Arbeitslosenversicherung sinken würden. Zum Vergleich: In Deutschland sind nur noch 30 Prozent der Arbeitslosen im System der Arbeitslosenversicherung. Aber aus diesen 30 Prozent kommen aber 70 Prozent der Arbeitsvermittlungen.

Niedrige Lohnstückkosten führten zu Extraprofiten der Exportindustrie

Raoul Didier, Steuerpolitik-Experte des DGB, und Sepp Zuckerstätter, AK-Wirtschaftswissenschafter, waren sich einig, dass die guten Beschäftigungszahlen in Deutschland nicht den Hartz-Reformen zu verdanken sind. Zuckerstätter meinte: „Deutschland wird für die falschen Dinge gelobt und für die falschen Dinge kritisiert.“ In der Krise habe die deutsche Industrie nicht auf Personalabbau gesetzt, sondern auf Erhalt der Arbeitsplätze, zum Beispiel durch Kurzarbeit. Dafür wurde Deutschland zu wenig gelobt, wie auch für die gewaltige Transformationsleistung nach der Wiedervereinigung. Nach der Wende musste die westdeutsche Wirtschaft quasi das gesamte Sozialsystem in Ostdeutschland finanzieren.“ Fälschlicherweise gelobt würde Deutschland aber für die Deregulierung des Arbeitsmarktes. Raoul Didier, Steuerpolitik-Experte des DGB, sagte: „ Der Rückgang der Lohnstückosten führte zu ordentlichen Extraprofiten für die deutsche Exportindustrie, denn gleichzeitig sind die Exportpreise gestiegen.“

Aktivierende Arbeitsmarktpolitik statt Zwangsbeschäftigung

„Mit Dumpinglöhnen matchen sich die Länder dieser Erde, eine Spirale, die sich unaufhaltsam nach unten dreht“, sagte Sascha Ernszt, Vorsitzender der ÖGJ. Man müsse beim Jobwunder Deutschland auch die dunklen Seiten betrachten. „Der Mensch ist immer dann am effektivsten, wenn er etwas gerne macht. Erzwungene Arbeit hat noch nie eine Gesellschaft reicher gemacht“, so Ernszt. Er fordert daher eine aktive und aktivierende Arbeitsmarktpolitik statt eine Zwangsbeschäftigung. „Unsere Aufgabe in Europa muss es sein, Kollektivverträge zu stärken und länderübergreifend Regelungen zu finden.“(fk/kd)


Rückfragehinweis:
   ÖGB Österreichischer Gewerkschaftsbund
   Katja Dämmrich
   Mobil: 0664 614 5011
   katja.daemmrich@oegb.at
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   Arbeiterkammer Wien
   Thomas Angerer
   +43-1 501 65-2578
   thomas.angerer@akwien.at
   http://wien.arbeiterkammer.at

 

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